Digitalisierung im Gesundheitswesen: Chancen und Stolperfallen

2023-06-28
Autor:
Jan Tissler

Eine umfassende Digitalisierung des Gesundheitswesens wird schon seit Jahrzehnten diskutiert. Die Chancen KI-unterstützter Forschung und Diagnosen erhöhen den Innovationsdruck derzeit. Viele Fragen sind aber weiterhin offen. Greifbare Ergebnisse gibt es nur vereinzelt.

An sich klingt die Digitalisierung des Gesundheitswesens nach einer rundum guten Idee. So wären dadurch alle Untersuchungsergebnisse, Diagnosen und Behandlungen jederzeit abrufbar. Auf diese Weise könnten Ärzte etwa besser sicherstellen, dass sich ein neu verschriebenes Medikament für einen Patienten mit anderen Behandlungen und Erkrankungen verträgt. Den Arzt zu wechseln würde einfacher. Doppelte Untersuchungen aufgrund verlorener Unterlagen wären vermeidbar. Und selbst wer im Urlaub einen Unfall hat oder krank wird, hat alle seine Patientendaten stets bei sich – über eine entsprechende App auf dem Smartphone.

Eine so perfekte und nahtlose Digitalisierung würde dabei nicht nur Ärzten und Patienten das Leben erleichtern. Sie könnte zudem die medizinische Forschung erheblich beschleunigen: Aus den Daten lassen sich Trends, Wirkungen und Zusammenhänge erkennen. Das gilt erst recht mit Blick auf zunehmend leistungsfähige KI-Werkzeuge: Sie sind prädestiniert dafür, Muster in enormen Datenmengen zu finden. Dazu müssen diese Daten aber erst einmal existieren, vollständig sein und sich zur Analyse eignen.

Die Diskussion zur Digitalisierung des Gesundheitswesens ist bei weitem nicht neu. Sie ist inzwischen gut 20 Jahre alt. Was aus dieser Diskussion herausgekommen ist, unterscheidet sich allerdings stark mit Blick auf verschiedene Länder.

Vorbilder Estland, Dänemark und Finnland

Als grosses Vorbild in Europa gilt etwa Estland. Der Baltenstaat hat das Thema schon in den 90er Jahren aufgegriffen und seitdem konsequent umgesetzt. Nicht nur das Gesundheitswesen, sondern auch Behördengänge oder Wahlen sind digitalisiert. Dänemark und Finnland gelten ebenfalls als Vorreiter in Sachen E-Health. Eine Übersicht zum Stand der Dinge in ausgewählten europäischen Ländern gibt diese Karte.

Die Schweiz hat die «Strategie eHealth Schweiz 2.0» ausgerufen. Vor allem das elektronische Patientendossier (EPD) steht hier im Mittelpunkt. Auf der Website heisst es dazu: «Für Bund und Kantone ist die Digitalisierung ein zentrales Instrument für das Erreichen wichtiger gesundheitspolitischer Ziele, namentlich in den Bereichen Behandlungsqualität, Patientensicherheit, Effizienz, koordinierte Versorgung und Interprofessionalität sowie Gesundheitskompetenz.» Die Einführung des EPD in der Schweiz ist verspätet, läuft inzwischen aber an.

In Deutschland ist das Gegenstück die elektronische Patientenakte (ePA). Sie ist zwar eingeführt, wird aber von der Bevölkerung kaum wahrgenommen: Nicht einmal ein Prozent der Versicherten nutzt sie bislang. Ein Grund ist die komplizierte Beantragung. Die deutsche Bundesregierung will nun von «opt-in» auf «opt-out» wechseln: Künftig soll also jeder Bürger eine ePA haben, solange nicht aktiv widersprochen wird.

Damit ist längst nicht jeder einverstanden. In der Diskussion spielen Ängste um die Sicherheit der eigenen Daten und deren Verwendung eine zentrale Rolle.

Befürchtungen rund um den Datenschutz

Diese Befürchtungen sind nicht aus der Luft gegriffen. Es hat etwa seinen Grund, warum die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) der EU Informationen um die eigene Gesundheit besonders streng begutachtet. Sie steht damit zugleich Plänen für einen «europäischen Raum für Gesundheitsdaten» (EHDS) entgegen oder macht ihre Umsetzung zumindest komplizierter. Die Idee hinter EHDS: So wie Dienste und Güter innerhalb der EU möglichst unbehindert ausgetauscht werden, soll das auch mit Gesundheitsdaten möglich werden.

Aber wie stellt man sicher, dass diese Informationen nicht in falsche Hände geraten? Sie zu anonymisieren oder pseudonymisieren sind Möglichkeiten, das Sicherheitsniveau zu erhöhen. Beide Varianten kommen allerdings mit spezifischen Vor- und Nachteilen. Bei einer Anonymisierung lassen sich Daten etwa für die Forschung nicht mehr im Verlauf betrachten, da nicht ersichtlich ist, welche Informationen zu welcher Person gehören. Die Pseudonymisierung macht das zwar möglich, ist dafür aber weniger sicher.

Weitere Fragen drehen sich darum, wer Zugriff auf welche Informationen hat und wie viel Mitspracherecht die Patienten bekommen sollen.

E-Health als technologische Herausforderung

Darüber hinaus ist ein digitalisiertes Gesundheitssystem eine enorme technische Herausforderung. Schliesslich entfaltet E-Health sein Potenzial erst, wenn Informationen lückenlos erfasst und bereitgestellt werden. Das wiederum klappt nur, wenn routinemässig alle relevanten Daten im System landen.

Aber selbst das reicht nicht: Die Informationen müssen ausserdem in einem sinnvollen Format vorliegen, idealerweise standardisiert. Ist das nicht der Fall, sind sie beispielsweise für die Forschung nur eingeschränkt oder gar nicht verwertbar. «Natürlich kann man aus Routinedaten valide Erkenntnisse aus dem klinischen Alltag ziehen, die wir aus Laborversuchen und bei kontrollierten Studien nicht bekommen, aber dazu muss die Datenbasis sauber sein» sagt etwa Medizin-Informatiker Peter Haas im Gespräch mit Heise.

Unstrukturierte Daten würden zudem die Arbeit der Ärzte erschweren: Sie können schliesslich im Fall der Fälle nicht erst etliche digitalisierter Dokumente durchlesen. Sie müssen wichtige Informationen und Zusammenhänge möglichst schnell erkennen.

Schlusswort

Es bleibt also in der Schweiz, in Deutschland und vielen anderen Ländern noch viel zu tun. Ein weiterer Antreiber in Sachen E-Health ist bei alldem das liebe Geld. So könnte die Digitalisierung viel einsparen. Für Deutschland schätzt McKinsey das beispielsweise auf 42 Milliarden Euro pro Jahr ein. Für die Schweiz sind es 8,2 Milliarden Franken. Zudem könnte Forschung auf Basis der Gesundheitsdaten etwa zu neuen und besseren Medikamenten führen – auch das ein milliardenschwerer Markt.